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Rede von Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, zur Eröffnung des Öffentlichen Teils der 13th International Democratic Education Conference in der Humboldt-Universität zu Berlin am 4. August 2005
Brauchen wir eine neue Schulkultur?
In Deutschland sind Sommerferien. Es ist schulfrei. Trotzdem beginnt in diesem Moment für Tausende von Kindern und Jugendlichen ein Tag, an dem sie etwas fürs Leben lernen: Geschichte zum Beispiel, Sport, Wirtschaft oder Chemie, eine Menge über Politik, vielleicht Mathe, viel Kunst, wahrscheinlich Physik, sicherlich Deutsch, Fremdsprachen oder Werken und vieles, vieles, was sich nicht in Schulfächer packen lässt. Sie tun das freiwillig, selbstbestimmt und selbstorganisiert, mit Kompetenz, Stolz, Toleranz und Spaß. Und damit lernen sie auch jede Menge über sich selbst, übers Zusammenleben, über Freiheit, Gerechtigkeit und Regeln, kurz: über und für Demokratie.
Klar, ich rede von Ferienprojekten und außerschulischen Angeboten. Ich denke da an die Spielstadt mit selbst gewählter Bürgermeisterin und abendlichen Bürgerversammlungen, an das Ferienlager und die kollektive Planung des Hüttenbaus, an die Morgenrunde während der interkulturellen Jugendbegegnung im Ausland oder an das Radioprojekt in der Jugendbildungsstätte. "Schulen der Demokratie" sind das. Wir haben etliche davon.
Wir wissen in Deutschland recht gut, wie es geht und dass es geht: Wenn Kinder und Jugendliche ihre eigenen Interessen erforschen, ausprobieren und umsetzen. Wenn sie eigene Regeln erfinden, verwerfen und erneuern. Und viele Kinder und Jugendliche wissen daher, wie es sich anfühlt, wenn man ihnen mit Respekt, auf gleicher Augenhöhe und Ernst begegnet, ihnen etwas zutraut und ihre Teilhabe einfordert. Wenn sie Einsicht in demokratische Strukturen und Formen, Übung darin, sowie Zugang dazu erhalten, die ihre Persönlichkeit herausfordern und fördern.
Ich muss mir nur diese Angebote und Projekte ansehen, um die Frage meines Vortrags beantworten zu können: Ja, wir brauchen eine neue Schulkultur, denn DAS kenne ich aus unseren Regelschulen nicht.
Demokratische Schulen?
Zwar war die Einrichtung unseres Schulsystems nach dem Krieg getragen vom Gedanken der Demokratisierung und Entnazifizierung. Aber die Zäsur der nationalsozialistischen Diktatur und des Krieges hatten auch die reformpädagogischen Ansätze in Wissenschaft und Praxis abgeschnitten. So setzte sich - im Westen übrigens gegen Modelle der Besatzungsmächte - das selektive dreigliedrige Schulsystem der Weimarer Zeit mehr oder weniger fort. In ihm herrschte und herrscht ein auf Vergleichbarkeit und Abprüfbarkeit abgekürzter Lern- und Leistungsbegriff, bestimmt die Selektion mehr als die Förderung den Lehrplan. Und auch bei der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wurden die westdeutschen Schulstrukturen und die Schulideologie von den neuen Bundesländern weitestgehend übernommen. Die positive wirtschaftliche Entwicklung Westdeutschlands hatte ihm bis dahin Recht gegeben: trotz gesellschaftspolitischer Diskussionen, zum Beispiel über die Chancengleichheit, und trotz neuer Modelle, wie zum Beispiel die Einführung von Gesamtschulen.
Neues
Das hat sich inzwischen geändert. Die staatliche Bildung ist krisengeschüttelt. Nicht erst seit PISA. Schon seit den 80er Jahren wurde in der internationalen Bildungsforschung und -diskussion ein Auge auf den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsentwicklung, Zukunftsfähigkeit, nachhaltige Entwicklung, gesellschaftliche Teilnahmechancen und Bildung geworfen. Diese Diskussion führt bei allen Unterschieden zu drei wichtigen Erkenntnissen, die auf eine Veränderung von Schule drängen:
1. Kompetenzerwerb statt Wissensvermittlung
Die Ausgangsfrage der Bildungsstudien seit den 80er Jahren heißt: "Was ist zukunftsfähige Bildung?" Eine schwierige Frage, denn vorauszusagen, was wird, um daran zu bestimmen, was sein soll und was man dafür braucht, wird ein immer schwierigeres Unterfangen. Der Wert von Wissen und Erfahrung verfällt immer schneller und Komplexität und Kompliziertheit nehmen zu. Der Bestimmung von Bildungsinhalten und -formen als "Kanon" folgt daher die Formulierung von notwendigen Kompetenzen als "Output" von Bildung. Kompetenzen werden definiert als Konglomerat aus Wissen, Können, Einstellungen, Fähigkeiten, als ein offenes Vermögen, auf künftige Anforderungen intelligent reagieren zu können. Sie verlangen offene, interaktive Lernformen und flexible Inhalte. Und Demokratiekompetenz gehört auch dazu.
2. Individualisierung
Spätestens seit den 80er Jahren spüren wir deutlich in allen Lebensbereichen, dass sich unsere Gesellschaft ausdifferenziert, dass lange unangefochtene gesellschaftliche Konsensvorstellungen, Sozialmilieus und dazu gehörige Kulturen sich auflösen bzw. vermischen, dass sich Lebens- wie Gesellschaftsentwürfe individualisieren. Im Schulalltag spiegeln sich diese Veränderungen für viele negativ als Störungen des bisherigen Betriebes: klassische Unterrichtsstörungen, raue Umgangsformen zwischen Schülern und Lehrkräften, Gewalt unter den Schülern oder Schule schwänzen sind solche Phänomene. Lehrer und Lehrerinnen sind keine Respektspersonen mehr, weder für Schüler und Schülerinnen, noch für viele Eltern. Noten werden angefochten, Aufgaben nur nach Diskussionen mit Widerwillen erfüllt und gegenseitige Rücksichtnahme wird unter den Schülern immer mehr zu einer Seltenheit. Die meisten Schulen verbuchen diese Phänomene unter "Disziplinverlust", fordern mehr Zugriff auf Eltern und deren Verantwortung sowie mehr Strafen im Schulalltag. Andere haben erkannt, dass hier im Zuge einer Liberalisierung von Tradition und Werten ein neuer Regelungsbedarf auf der Tagesordnung steht. Sie streben daher Verhandlungen und Vereinbarungen für das Zusammenleben an, die partnerschaftlich zwischen Lehrkräften, Eltern und Schülern ausgehandelt werden.
3. Demokratisierung
Das führt mich zur dritten Veränderung, die ebenfalls die Schule betrifft: Der individuelle, gesellschaftliche und politische Regelungsbedarf wächst, ohne dass eindeutig gesagt werden könnte, wer die Kompetenz zur Problemlösung besitzt. Die der etablierten Politik nimmt ab zugunsten der Forderung nach einer Erweiterung der Entscheidungsbasis und nach "echter Beteiligung" gesellschaftlicher Gruppen. "Top Down"-Entscheidungen verlieren immer mehr die Legitimation. Denn wo die Komplexität der Entscheidungen steigt, kann nicht ein einzelnes Machtwort von oben Klarheit schaffen. Wo Diversifizierung um sich greift, kann nur ein gemeinsames Aushandeln das Zusammenspiel regeln.
Diese Entwicklung spiegelt sich in Forderungen nach Partizipation von Kindern und Jugendlichen, wie sie prototypisch in der Agenda 21 oder in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen formuliert sind. Die Kinderrechtskonvention fordert unter anderem eine demokratische Schule. Artikel 12 der Kinderrechte besagt nicht nur, dass Kinder das Recht haben sich selbst einzubringen, sondern, dass diesem - auch in der Schule - entsprechende Bedeutung und Gewicht beigemessen werden soll. Hier sollen auch die notwendigen Beteiligungskompetenzen vermittelt werden. Schule soll Schülerinnen und Schülern Respekt und den Wert von Demokratie vermitteln und interaktive Lernprozesse sollen die Selbstbestimmung fördern.
Auf europäischer Ebene spiegelt sich diese Überzeugung im so genannten Weißbuchprozess, in dem Jugendliche in Europa ihre Forderungen an die europäische Jugendpolitik gestellt haben (und nach denen sich diese tatsächlich in der Folge ausrichtet). Oder in einem Beschluss des europäischen Jugendministers, der staatsbürgerliches Engagement von Jugendlichen, eine stärkere Einbeziehung der Jugendlichen in das System der repräsentativen Demokratie und verschiedene Formen des Erwerbs von Partizipationskompetenz fordert.
Und gerade bekräftigte der Europarat bei seinem letzten Gipfeltreffen im "Europäischen Jahr der Demokratieerziehung" die aktive Teilhabe der Jugendlichen als Angelpunkt wirksamer Demokratie. Der Europarat will die Bemühungen verstärken, Jugendliche in die Lage zu versetzen, aktiv an demokratischen Abläufen teilzunehmen und die Jugendperspektive in alle Tätigkeiten des Europarates einfließen zu lassen. Zuvor hatten Schülerinnen und Schüler unter dem Dach des Europarates eine "Europäische Charta für eine demokratische Schule ohne Gewalt" verfasst.
Entwicklungen
Spüren wir etwas von diesen Entwicklungen in unseren Schulen? Oh ja! Denn wir können einerseits nach dem PISA-Schock eine konservative Tendenz feststellen: den Ruf nach Leistung und Standardisierung. Andererseits aber sind sich viele Schulen und Experten für Schulentwicklung - dazu zählen auch viele Bürokraten in der Schulverwaltung und in den Ministerien - über die Notwendigkeit und in den Eckpunkten sowie Instrumenten für eine innere Schulreform einig. Und Vieles davon wird Schritt für Schritt in unseren Regelschulen umgesetzt. Ich nenne nur einige Punkte:
- Schritte hin zu einer wachsenden Schulautonomie - Stichwort "selbstständige Schule" - und zu einer Öffnung von Schule;
- das Aushandeln von demokratischen Leitbildern und eigenen Regeln in Schulprogrammen, Schulvereinbarungen und Schulverfassungen
- Modelle eines demokratischen Schulalltags mit erweiterten Formen der Schüler- und Elternvertretung, z.B. Kinder- oder Schulparlamenten, Klassen- und Jahrgangsräten oder Schulversammlungen und einer selbst gestalteten Schulöffentlichkeit mit eigenen Ausdrucksformen und Medien
- die Einführung demokratischer Konfliktlösungsmodelle der Deeskalation, Mediation, Streitschlichtung, die vielen "Schulen ohne Rassismus"
- alternative Lehr- und Lernstrukturen wie die Abschaffung oder Auflockerung des Stundenrasters und der Stundentafel, fächer- oder stufenübergreifender Unterricht, offene Angebote und Wahlangebote, Projektunterricht, individuelle Lernpläne, altersgemischte Gruppen, Binnendifferenzierung, selbstorganisiertes Lernen, Schülerklubs oder Schülerfirmen, Peer Education oder Service Learning
Ein Traum von Schule
Das alles setzt auf demokratische Tugenden, auf Toleranz, Respekt und Solidarität aller Beteiligten, lebt und erzeugt Kommunikations- und Organisationsfähigkeiten, Selbstbewusstsein und Zivilcourage. Diese innere Schulreform der Demokratisierung lebt nicht nur von der Einführung demokratischer Instrumente und Strukturen, sondern vor allem von einer Kultur der Anerkennung. Denn "Demokratische Schulen" wie "Schulen der Demokratie" brauchen mehr als Mitbestimmungs- und Mitwirkungsgesetze für die Schule. Sie brauchen eine neue Schulkultur und einen "Traum von Schule". Unter diesem Motto, das mir gut gefällt, sucht die Evangelische Grundschule Potsdam in einer "Gemeinsinn-Werkstatt" auf allen Ebenen der Schule und in deren Umfeld nach neuen Wegen des aktiven Zusammenlebens.
Und sie brauchen Unterstützung, Ermutigung und den Blick über den Tellerrand. Die Bundeszentrale für politische Bildung beteiligt sich daher gern an der Weltkonferenz Demokratischer Schulen. Sie nimmt Erfahrungen und Erkenntnisse mit, um die oben beschriebenen Entwicklungen in Deutschland weiter zu stärken. Ich wünsche Ihnen, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Veranstaltung, daher viele neue und interessante Erkenntnisse. Vor allem aber wünsche ich uns allen viel Mut und Optimismus, "einen Traum von Schule" zu realisieren.
- Es gilt das gesprochene Wort -